Auf nach Kanada – Viertes Kapitel

von Peter Iden

Das dritte Kapitel finden Sie hier

Die Geschichte einer (etwas anderen) Auswanderung

Sonnabend, 10. April 1954 – im Englischen Kanal

“Achtung: an alle Stellen: Steuerbord voraus Englische Steilkueste in Sicht. Wir passieren Dover um 07:40 Uhr Greenwich Time. Durchsage beendet.”

Der Bordfunker reisst uns aus der Koje. Schnell gewaschen, angezogen, dann raus. Strahlender Sonnenschein, aber diesige Sicht. Weisslich-gelb leuchtet die 30 Meter hohe Kreidekueste zu uns herueber, aber die Sonnenglast erlaubt nichts Naeheres zu erkennen.

Und dann kommt Dover. Wir erkennen durchs Fernglas die Hafenanlagen, Leuchttuerme und Kirchtuerme der Stadt. Auch die Schiffe, von denen sich immer 6 bis 10 in Horizontsicht aufhalten.

Die dreckige Wasserfarbe der Elbe ist allmaehlich vom Blaugruen der Nordsee ins Gruene des Kanals und dann ins leuchtende Hellgruen uebergegangen.

Um 12 Uhr mittags passierten wir Beachy Head, die letzte Landecke von Europa. Wir laufen jetzt durchschnittlich 12,63 Knoten/Stunde und sind 518 Seemeilen von Hamburg aus gefahren.

13:00 Uhr. Ich habe mir erst einmal den Bauch mit Sauerkraut und Eisbein gefuellt. Ein voller Magen ist gut gegen Seekrankheit, sagte man uns. Ich werde nicht seekrank, aber Leute die dafuer anfaellig sind, wuerden hoechstwahrscheinlich das Gegenteil behaupten.

Und jetzt an Deck, Licht, Luft, Sonne schnappen. Aber trotz der “letzten Landecke” fahren wir noch immer dicht unter England’s Kueste. Die “Colonia” schaukelt wie ein Perd im Kinderkarussell. Erst ein Fall von Seekrankheit an Bord bekannt. Draussen strahlende Sonne, gute Sicht. Die Matrosen nennen das “Alsterwetter”. Wir Passagiere finden es auch prima, wenigstens bis jetzt noch.

16:00 Uhr. Wir befinden uns immer noch im Englischen Kanal. Die See ist oberflaechlich spiegelglatt, aber eine lange Duenung vom Atlantik hat es in sich. Ich bringe es nicht mehr fertig, auf dem Promenadengang gerade zu gehen.

Auch mit dem Schreiben klappt es nicht mehr so ganz. Das Schiff faengt an, seitwaerts zu schlingern. Wenn man aber die Schiffsbewegungen mit weichen Beinen ausgleicht, laesst es sich schon einigermassen ertragen.

16:30 Uhr. Wir passieren die Insel Wight steuerbord. Wight ist felsig und ein beliebter Badeort. Auf Wight befindet sich eine grosse Radio-Station (Wendnor Radio), deren Funktuerme wir deutlich erkennen.

17:00 Uhr. “Kanalwetter” zieht auf. Dichter Nebel zeigt sich in der Ferne. Die See ist noch glatter geworden, bis auf die Duenung. Es ist aber ziemlich warm, denn wir fahren jetzt im Golfstrom. Die Matrosen sagen uns, dass sie hier selten so schoenes Wetter wie heute hatten.

19:00 Uhr. Wir sitzen jetzt in einer ziemlich dicken Bruehe; mit der schoenen Sicht ist es vorbei. An das starke Schaukeln des Schiffes (Meinung der Landratten) oder das “glatte Schoenwetter-Meer” (sagen die Matrosen) gewoehnt man sich mit der Zeit. Ja, es macht sogar Spass, immer auf und ab wie im Paternoster zu fahren.

20:00 Uhr. Fuer heute habe ich mir vorgenommen, frueh in die Koje zu schluepfen. Aber vorher noch ein Bad in der Badekabine.

Sturm in der Badewanne! Das Wasser schwabbt ewig ueber. Aber auch das ist bald ueberstanden.

Sonntag, 11. April 1954 – Land’s End

09:00 Uhr morgens. “Land’s End” – die Scilly Inseln – steuerbord voraus in Sicht. Scheinbar kommen wir nicht so leicht vom “Ende Europas” weg. Die Scilly-Inselgruppe umfasst 48 kleinere und groessere Inseln. Davon Sind aber nur fuenf von etwa 1,700 Menschen bewohnt.

Einige der Inseln sind grassbewachsen, viele sind jedoch nur kleine felsige Klippen. Heute sieht man selbst ohne Fernglas die ungeheure Brandung an den Ufern der Inseln.

10:00 Uhr. Wir passieren den Leuchtturm von Land’s End – das Letzte, was wir von Europa sehen.

Den Kanal haben wir hinter uns, den Atlantik voraus. Normalwetter: lange, tiefe Duenung von etwa 2 bis 3 Meter. Das Schiff bohrt sich immer wieder In die Wellen, steigt vorne hoch, rutscht wieder ins Wellental ab, immer im gleichen Rhytmus.

Man muss seinen Schwerpunkt jeden Augenblick verlagern, sonst landet man in irgend einer Ecke. Mit breiten Beinen (Seemannsbeinen?) gehen und stehen, das ist die beste Medizin dagegen. Meine Kabine macht ihrem Namen wenig Ehre; sie ist alles andere als in der “Waage”!

Die Mannschaft versucht weiter, uns “auf die Schaufel” zu nehmen. Sie geben uns ein “Rezept”, mit dem man die Seekrankheit abwenden kann. Mann nehme etwas “Kabelgarn” und ein Stueck Speck, bindet das Garn um den Speck, und schluckt Garn und Speck hinunter. Dann zieht man es langsam wieder aus dem Hals. Dass sollte man mehrmals wiederholen.

Ein Glas starker Schnaps oder eine Zwiebel, die man sich sehr langsam einverleibt, sollen dieselbe Wirkung haben.

12:30 Uhr. Wir haben bisher 797 Seemeilen von Hamburg geschafft. Heutige Durchschnitts-Geschwindigkeit 11,79 Knoten. Man haelt uns dauernd informiert.

Die Duenung wird immer staerker, der Bug der Colonia taucht tiefer und tiefer in die Wellen, ueber die Anker in die Wellenberge ein. Trotzdem sagt man uns, es ist das schoenste Wetter, was man auf dem Atlantik haben kann.

Es wird von Tag zu Tag waermer, denn wir fahren einen suedlichen Kurs, um spaeter wieder nach Norden steuern zu koennen. Scheinbar hat das etwas mit Eisbergen zu tun, die etwas weiter noerdlich zahlreich sind.

Einige Passagiere – und auch einige Besatzungsmitglieder – haben schon “die Fische gefuettert”.

“Purzel”, das einzige Tier an Bord, aus der Familie der Spitze, hat sich auch langsam eingewoehnt.

Insgesamt sind wir 41 Leute an Bord. (12 Passagiere und 29 Mann Besatzung.

Draussen faengt es jetzt an, etwas zu nieseln. Ich gehe noch einmal Midships zum Mannschafts-Logis, kloehne dort einige Zeit und haue mich dann in die Koje.

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