120 Volt, reicht das überhaupt?
Es ist taghell in Montréal, auch bei Nacht. Was man dem Foto nicht ansieht, viele der Lichter werden nicht mit 120 Volt, sondern mit 277 Volt betrieben. Auf Baustellen kann man sogar schon mal 377 Volt begegnen. Es gibt für die Industrie und das Gewerbe auch Drehstrom. Der hat dann 480 Volt oder sogar 600 Volt. Natürlich sind sich die Kanadier der Gefahr durch solche Spannungen bewußt und deshalb darf da niemand eine Glühbirne oder eine Leuchstoffröhre wechseln, der keine bestandene Prüfung nachweisen kann. Wer aus Versehen die 277 Volt angefaßt hat, der muß zur Beobachtung im Krankenhaus übernachten.
Wo Publikumsverkehr herrscht und selbstverständlich auch zuhause, ist die Spannung auf 120 Volt beschränkt. Wer mal eine moderne kanadische Küche gesehen hat, wird staunen über den Elektroherd, der nicht vier sondern fünf Herdplatten hat und nicht einen, sondern zwei Backöfen. Auch Kühlschrank, Gefrierschrank und die Elektroheizung brauchen Strom. Deshalb hat jeder Haushalt seinen eigenen Trafo vor der Tür. Drehstrom sucht man im Haushalt vergeblich. Statt drei Phasen gibt es nur zwei, aber oh Wunder, zwei mal 120 Volt gibt 240 Volt, genau wie bei uns. Weil Leuchtstoffröhren mit 120 Volt schlecht starten, besonders wenn es kalt ist, werden die im Haushalt gelegentlich mit 240 Volt betrieben, der Elektroherd und die Gefriergeräte auf jeden Fall. Der Trafo wird häufig im Vorgarten oder unter dem Trottoir, unterirdisch versteckt. Der Strom kommt nicht mehr vom Dach, sondern aus dem Keller.
Grüner Strom, wer hat noch nicht davon gehört?
Rechenzentren sind eine Mischung aus Industrie und zuhause. Weil es Industrie ist, gibt es Drehstrom. Weil Publikumsverkehr da ist, gibt es nur 120 Volt und jetzt sind zwei mal 120 Volt nur noch 208 Volt. Es gibt wirklich Geräte für diese Spannung, in Nordamerika. Das hat seinen Grund darin, daß grüne Stromverbraucher nicht mit grünem Strom laufen, sondern mit rotem, und als Abfall erzeugen sie blauen Strom.
Um das zu verstehen, muß ich weiter ausholen. Unser Lichtnetz wurde aufgebaut, in einer Zeit, in der Glühbirnen und Elektromotoren die Verbraucher waren. Heute sind die Verbraucher Energiesparlampen und Computer, kurzum Schaltnetzteile. Auch wenn uns die Glühbirne heute nicht mehr grün ist, sie ist träge und nimmt den Strom den sie bekommt. Das Schaltnetzteil ist schnell und wählerisch. Sagen wir es verzehrt nur roten Strom, den blauen verschmäht es.
Die Aufteilung in roten und blauen Strom funktioniert nur solange der nicht gewollte Strom über die Erde abfließen kann. Das Elektrizitätswerk kann roten und blauen Strom nur gemeinsam erzeugen und in der Leitung transportieren. Wer soll für den blauen Strom aufkommen? Der Verbraucher natürlich. Zwar erzeugt der sogenannte Blindstrom keine Wirkleistung, aber er erzeugt in der Leitung sehr wohl Wärme. Er verursacht Kosten. Darum haben die Elektrizitätswerke sehr schnell Zähler entwickelt die auch den Blindstrom zählen.
Die meisten Schaltnetzteile stehen in Rechenzentren und dort sind auch die ersten Stromzähler, die den Blindstrom messen. Informatiker sind nicht dumm. Die haben im Internet geblättert und gelesen, daß ohne Erde kein Blindstrom fließt. Also haben die die Erde weg gelassen und schließen ihre Schaltnetzteile zwischen zwei Phasen an, statt zwischen Phase und Erde. Bei 120 Volt pro Phase ergibt das 208 Volt bei zwei Phasen. Viele Schaltnetzteile funktionieren ohne Umschalten sowohl mit 120 Volt als auch mit 240 Volt. Klar gehen die auch mit 208 Volt. Nachdem die ersten Geräte mit 208 Volt liefen, mußten die anderen schnell nachziehen und so findet man heute in Kanada Elektrogeräte für 208 Volt obwohl keine internationale und keine nationale Norm solch eine krumme Spannung kennt.
Zuhause funktioniert der Trick mit den zwei Phasen nicht. Wir haben keinen Drehstrom. Die beiden Phasen die in den Haushalt kommen, werden aus nur einer Phase gewonnen. Erst an der Stromrechnung merken wir, daß uns das Elektrizitätswerk nicht nur den grünen Strom in Rechnung stellt, sondern auch den roten und den blauen.