Unterwegs in Nova Scotia, Kanada – Tag 12 – der letzte Tag

von Peter Iden

Sonnabend, 15. Juni 2002 – Baie St.Marie, L’Acadiens, Grand Pre, Smuggler’s Cove, Sandford Bridge, Yarmouth.

Ein herrlicher Sonnenaufgang ueber der Bucht bei Digby, und ein Spaziergang um 6 Uhr morgens zur Faehre. Eine Stunde spaeter kommt eine Front aus dem Westen her, und wir fahren den ganzen Tag im stroemenden Regen weiter, durch die “Acadian Country” entlang der Baie St. Marie.

L’Acadiens und ihre “Evangeline”:

Jetzt muss ich einen Schritt zurueck machen und ueber unseren gestrigen Besuch in Grand Pre, etwas suedlich von Windsor, berichten. Es war dort, wo wir einen Teil der Geschichte der Akadier mitbekamen. In Grand Pre, dem Geburtsort von Evangeline, der imaginaeren Heldin in Henry Wadsworth Longfellow’s gleichnamigen Gedicht, wurde in 1922 eine kleine Kirche gebaut, die jetzt von der kanadischen Regierung als Akadisches Museum im Rahmen der “National Historic Sites of Canada” betrieben wird. Die Kirche wird heute nicht als solche benutzt, sondern ist eine grosse Touristen-Attraktion.

In Longfellow’s “Evangeline” wird die Heldin waehrend der Deportierung der Akadier durch die Briten in 1755 von ihrem Geliebten Gabriel getrennt. Evangeline suchte ihr ganzes Leben lang in ganz Amerika nach ihrem Gabriel. Endlich, als alte Frau und “Sister of Mercy” in einem Krankenhaus in Philadelphia findet sie ihn, als er waehrend einer Epidemie sterbend dort liegt. Er stirbt in gluecklich in ihren Armen. Es ist eine Geschichte, aus der Legenden gemacht werden, eine Legende, die Zuschauer und Leser zu Traenen anregt. Das Schauspiel der Evangeline findet jedes Jahr in verschiedenen Orten des “Evangeline Trail” statt.

“Evangeline”, das Musical:

Weiter suedlich in Pointe-de-Eglise in der “Region Acadien” von Nova Scotia laufen waehrend des Touristen-Sommers viele Vorstellungen des auf dem Buch von Longfellow basierten Musicals “Evangeline”, welches jedes Jahr in Englisch und Franzoesisch von Tausenden Besuchern gesehen wird. Es ist die Geschichte, die an die Herzen der Akadier greift, denn auch wenn sie von einem Amerikaner und Nicht-Akadier geschrieben wurde, ist es ihre Geschichte, und sie vergessen sie nie! Der akadische “Guide” in Grand Pre sagte mir, dass bei jeder der vielen Auffuehrungen die Traenen der Zuschauer fliessen. Das Musical ist eine “Freiluft-Vorstellung”, bei der die Zuschauer in einem grossen Park von den Schauspielern durch die verschiedenen Phasen des “Grand Derangement”, wie die Akadier ihre Deportierung in 1755 durch die Englaender nennen, gefuehrt werden.

“Le Grand Derangement”:

“Die Akadier liebten Nova Scotia so sehr, dass sie es zweimal besiedelten” (Leonie Comeau Poirier). Was die englischen Historiker eine “Ausweisung” der Akadier aus Nova Scotia nennen, war in der Tat eine “Deportierung” der von den Englaendern unerwuenschten Elemente, und das traf auf alle Franzosen zu. “Le Grand Derangement”, die “Grosse Entwurzelung”, nennen es die Akadier. Die “Loyalisten” hatten ihren Kampf fuer das Englische Koenigreich in Nordamerika verloren. Also kehrten sie in das jetzt britische Kanada zurueck. Aber die Akadier bewirtschafteten schon seit langem die besten Laendereien, hatten neues Land durch die Abdeichung des Ozeans gewonnen, hatten ihre huebschen Haeuser gebaut, in denen sie friedvoll mit ihren grossen Familien lebten.

Die Englaender wollten diese Laendereien, und weil die Franzosen den letzten Anglo-Franzoesichen Krieg verloren hatten, waren die Akadier jetzt unerwuenscht. Da sie keinen Eid auf die englische Koenigskrone schwoeren wollten, und inzwischen Tausende von neuen Einwanderern aus Schottland, Irland und England in Halifax auf ihr versprochenes Land warteten, beschlossen die Briten in 1755, die Akadier zu deportieren. Das geschah durch die Verbrennung ihrer Haeuser, die Uebernahme ihrer Laendereien durch die Englaender, und ihrer unfreiwilligen Verfrachtung auf Segelschiffe, die sie in andere Laender bringen sollten. Sie durften nur die notwendigsten Sachen mitnehmen.

Aber es gibt noch andere Versionen der Akadischen Geschichte. Die “Longfellow” Version ist die generell akzeptierte, aber die Wirklichkeit sah etwas anders aus. Zahlreiche Akadier flohen nach Quebec, New Brunswick, Prince Edward Island, St.Pierre et Miquelon und in die noerdlichen US-Staaten von Massachussets bis Georgia. Niemand wollte sie aufnehmen, und selbst von Prince Edward Island wurden viele von ihnen wiederum deportiert, nach Frankreich, England und anderen Laendern.

http://acim.umfk.maine.edu/derangement.html

Mehr als 6000 Akadier wurden in 1755 allein aus Nova Scotia ausgebootet. Ihnen folgten Tausende mehr. Aber niemand wollte so viele Menschen aufnehmen, wie auf die Schiffe verfrachtet wurden. Tausende starben auf den Irrfahrten ihrer Schiffe. Zahlreiche Akadier liessen sich in Louisiana nieder, wo sie heute als “Cajuns” bekannt und geachtet sind.

Als in 1763 wieder Frieden zwischen Frankreich und England einkehrte, wurde den Akadiern erlaubt, wieder nach Nova Scotia zurueckzukehren. Etwa 2000 von ihnen kamen zurueck. Sie sind die Urahnen der heutigen akadischen Bevoelkerung der Provinz.

Auf dem “Evangeline Trail”:

Suedlich von Digby sind wir jetzt in der wahren “Evangeline Country”. Die Route von Windsor bis Yarmouth nennt sich “The Evangeline Trail”, aber das Herz des “Acadian Country” liegt im unteren Drittel, zwischen Digby und Yarmouth. Hier in der “Municipalite de Clare” ist die “Region Acadienne Baie Sainte-Marie”. Allerdings gibt es Akadier ueberall in Nova Scotia, wie in der Gegend von Cheticamp, auf der Isle Madame, an der Suedkueste von Cape Breton Island und in einigen anderen Lokalitaeten. An der Baie Sainte-Marie jedoch leben mehr Akadier als irgendwo anders in Nova Scotia.

Wir fahren durch Orte mit franzoesischen Namen wie Belliveau Cove, Grosses Coques, Comeauville, Saulnierville, St.Alphonse und Mavilette. Es ist eine Strecke der Kirchen. Huebsche, weisse Holzkirchen zwischen vielen ebenso huebschen, vielfarbig angemalten Wohnhaeusern. An einigen Geschaeften und Haeusern weht die “Stella Maris” (Stern des Meeres), die offizielle Flagge der Akadier (es ist ihre “Nationalflagge”), eigentlich die franzoesische Flagge mit einem gelben Stern in der linken (blauen) Farbbahn.

St.Bernard und seine Granit-Kirche:

Nur eine der akadischen Kirchen ist anders als alle anderen: die riesige Granitkirche in St.Bernard wurde von den Fischern, Holzfaellern und Farmern in 32 Jahren zwischen 1910 und 1942 erbaut. Drinnen treffen wir einen alten Akadier aus new Brunswick, der hier nach den Vorfahren seiner Familie sucht. Nicht leicht, wenn man bedenkt, dass die Akadier durch die Deportation in alle Welt zerstreut wurden! Wir fangen eine Unterhaltung an. Er spricht klar und langsam, ich kann sein akadisches Franzoesisch gut verstehen. Aber dann geht mir doch meine franzoesische Puste aus, und ich sage ihm “Monsieur, je parle un peu de Francais, mais, je preferer L’Anglais.” Ende der Unterhaltung. Entweder spricht er kein Englisch, oder er will es nicht, weil er in dieser Gegend zu viel der Geschichte seiner Vorfahren und dem “Grand Derangement” erfahren hat. Das ist selten in Kanada, besonders wenn man es zuerst in seiner Sprache versucht hat!

Wenig Tourismus in Acadia:

Die Akadier in Nova Scotia sind bisher (mehr oder weniger absichtlich) vom Massentourismus verschont geblieben. Wer, so wie wir, nur durch die Ortschaften faehrt, in denen sie leben, wird sowieso kaum etwas von ihrer Eigenart, ihrer Sprache, ihrer Lebensweise, ihrer 400-jaehrigen turbulenten Geschichte mit bekommen. Sicher, es gibt “Acadian Festivals”, es gibt die “Evangeline”-Vorstellungen, es gibt Plaetze wie Grand Pre, wo man einen kleinen Einblick bekommt. Aber dieser Einblick kann leider nur sehr oberflaechlich bleiben!

Doch die Akadier sind am Aufwachen. Ihre amerikanischen Cousins, die “Cajuns” (eine Umformung der Bezeichnung “Acadien”) haben aus ihrer Geschichte in Louisiana eine 9-Milliarden-Dollar Touristenindustrie aufgebaut. Die kanadischen Akadier wollen neuerdings ihre Heimat als “L’Acadie” agressiv an die Besucher “vermarkten”. Aber sie haben immer noch Angst, dass ihre Sprache sowie ihre Kultur durch den Einfluss der Touristen kompromittiert werden. Die Aufrechterhaltung von Kultur und Sprache sind sehr wichtig fuer “L’Acadiens”! Aber mit dem Aussterben der Fischerei und anderen Erwerbsmoeglichkeiten bleibt ihnen keine andere Wahl als die Promotion des Massen-Tourismus!

Akadische Musik ist etwas Spezielles in Kanada, wie auch die “Cajun” Musik in Louisiana:


http://www.cbc.ca/radio2/cod/concerts/20091013ventd
http://www.cbc.ca/radio2/cod/concerts/20090523vshtn
http://www.cbc.ca/radio2/cod/concerts/20091014noble
http://www.cbc.ca/radio2/cod/concerts/20080808genti

Pointe-de-Eglise und die groesste Holzkirche in Nordamerika:

Die groesste Holzkirche in Nordamerika steht in Pointe-de-Eglise (Church Point). 185 Fuss (48 Meter) hoch, sieht sie trotzdem aus wie ein Modell aus einem Kinderbaukasten. Der Eintritt wird mir von zwei jungen Maedchen in akadischer Kleidung verwehrt. Sie wollen zwei Dollar pro Person fuer eine kurze Besichtigung” haben. “Tut mir leid”, sage ich in Englisch, “aber ich habe in Kanada noch nie dafuer bezahlt, eine Kirche zu betreten!”

http://www.acadian-cajun.com/hisacad1.htm
http://en.wikipedia.org/wiki/Acadians
http://en.wikipedia.org/wiki/Cajun_cuisine

Smugglers Cove:

Am “Smuggler’s Cove” halten wir einige Zeit im Regen, um uns die Hoehle anzusehen, in der einst die Schmuggler waehrend der “Prohibition” in den zwanziger Jahren ihre geschmuggelten Gueter und Alkohol versteckten. Dann kommt unser letzter geplanter Stop in Nova Scotia: die kleine Bruecke in Sandford, als “kleinste Liftbruecke der Welt” bekannt. Es regnet in Stroemen. Unsere Fahrt durch Nova Scotia endet im Regen in Yarmouth, wo wir uns in das “Mermaid Best Western Motel” einbuchen. Sauber (unser Kriterium bei allen Unterkuenften), grosse Raeume, freundlich und sehr gemuetlich. $ 99.00 pro Nacht. Und mit einem “Wendy’s” und “Tim Horton’s” direkt gegenueber! Wir sind wieder in der “Zivilisation” gelandet!

Die “Scotia Prince”:

Am naechsten Morgen begeben wir uns auf die Autofaehre “Scotia Prince” , die uns in etwa 11 Stunden in Portland, Maine deponiert. Die lange Fahrt wird uns erheblich durch die Unterhaltung einer “on board music band” sowie eines grossen Restaurants und einer Bar erleichtert. Wir kommen spaet abends in Portland an und finden etwas ausserhalb ein Highway-Motel zur Uebernachtung, bevor wir am naechsten Tag wieder durch Maine, New Hampshire, Vermont, mit einer zweiten Uebernachtung in Montreal, nach Ontario zurueck fahren, zuerst zu unserer Tochter in Bobcaygeon, dann von dort am naechsten Tag zurueck nach Brampton. Diese Reise dauerte insgesamt 18 Tage.

Peter Iden
Brampton, Ontario, Kanada

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1 Kommentar

Günter Frillmann 10. März 2010 - 12:26

Hallo Peter Iden,
das waren wunderschöne Reiseberichte mit viel Hintergrundwissen. Ich habe schon täglich auf die Berichte gelauert, entweder hier oder bei Kanadamailing.de. Wir sind ja auch in den letzten Jahren oft in NS gewesen, haben auch viel von dem gesehen was Du berichtet hast, aber vieles auch noch nicht. Darum werden wir auch in diesem Jahr wohl wieder in Halifax landen und von dort wieder einen Teil von NS erkunden bevor wir dann über PEI nach NB in unser geliebtes St.Andrews by the Sea fahren.
Nochmals vielen Dank für Deine Reiseberichte. Viele Grüße nach Brampton, wo wir ja auch schon einmal in dem vir Dir empfohlenen “Mont-Carlo-Inn” genächtigt haben.
Grüße aus der Rattenfängerstadt, Günter Frillmann

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