Warum Kanada wirklich ein Reiseziel für jedermann ist

von Christian Jesper

An meine erste Kanadaerfahrung, denke ich noch heute gerne zurück. Ich nahm an einer mehrwöchigen, geführten Kanutour durch den Yukon teil. Ich war der einzigste Teilnehmer mit einem Handicap. Ich bin conterganbehindert und Prothesenträger. Zum Kanusport kam ich schon im Kindesalter, und diese Leidenschaft hält bis heute an. Sicher, ich brauchte ab und an etwas Unterstützung oder Hilfestellung, insbesondere bei den Portagen und dem Gepäcktransport. Doch der kanadische Tourguide handhabte das so aufmerksam und selbstverständlich, dass es den anderen nicht auffiel und mir zu keiner Zeit unangenehm war. Wie typisch dieses unkomplizierte Verhalten gegenüber Behinderten für die Kanadier ist, lernte ich in den Folgejahren immer wieder neu kennen. Diese Tatsache ist ein wichtiger Grund, weshalb ich Kanada kennen und lieben gelernt habe und in der Reisebranche hängen geblieben bin und mich auf Kanadareisen spezialisiert habe.

Diese Erinnerung an meine erste Kanadareise überkommt mich immer dann, wenn ich mal wieder die Koffer für eine Kanadareise packe. Mein fester Vorsatz ist jedes Mal gleich: Nur zwei Koffer packen. Wobei ein Koffer schon dafür drauf geht, meine Schwimmprothese und mein Sitzkissen unterzukriegen. Als Polsterung müssen unsere Schlafsäcke herhalten. Das „Übergewicht“ das ich bei diesem Koffer habe, werde ich beim einchecken als „medizinisches Equipment“ deklarieren, in der Hoffnung, dass mir hier, wie bislang, keine zusätzlichen Kosten entstehen. Dies wurde von den Fluggesellschaften bislang relativ tolerant gehandhabt. Ein kleiner Tip „by the side“: Packen Sie auch Ihre deutsche Behindertenparkberechtigung mit ein. Sie wird in Kanada anstandslos anerkannt. Außerdem sind die meisten Parkplätze für gehbehinderte Personen kostenfrei (mit entsprechendem Ausweis) und zentral, das heißt direkt vor den Gebäuden und Einrichtungen gelegen. Fremdparker auf einem Behindertenparkplatz gibt es nicht.

Wir sind schon von den verschiedensten Flughäfen aus nach Kanada geflogen. Meist bevorzugen wir entweder den Düsseldorfer Flughafen, da wir hier unter Vorlage der Behindertenparkberechtigung umsonst parken können (das geht sonst an keinem anderen deutschen Flughafen). Oder den Frankfurter Flughafen. Dann buchen wir ein Sleep & Fly Angebot – und fliegen am nächsten Morgen nach Kanada. Auf dem Hotelparkplatz kann man dann das Auto für die gesamte Reisezeit parken. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man bei Vergleich der verschiedenen Angebote mit einer solchen Lösung günstiger fahren kann, als wenn man teure Parkgebühren direkt am Flughafen entrichtet.

Wir fliegen oft mit der kanadischen Charterfluggesellschaft „Air Transat“. Denn die Stewardessen sind aufmerksam und haben für mich auch schon mal nach der Landung in Whitehorse eine Rampe organisiert, damit ich das Flugzeug ebenerdig verlassen konnte und nicht die doch recht steile Treppe nehmen musste. Ein anderes Mal, auf einem Flug nach Vancouver, wurde ich noch während des Fluges gefragt, ob man mich und meine Frau Reni mit einem sogenannten E-Caddy zum Zoll bringen sollte. „Wir haben doch aber gar keine Voranmeldung hierfür gemacht“ staunte Reni. „Das macht nichts – das ist auch so kein Problem“ erwiderte die Stewardess und so nahmen wir das Angebot dankbar an. Da insgesamt 4 Personen mitfahren können, stiegen auch noch zwei ältere Damen zu. Mit einem für kanadische Verhältnisse zügigen Tempo rasten (hahaha) wir durch bis zum Zoll. Wir stellten uns brav in der Schlange an. Nach einer Weile kam ein Officer in schwarzer Uniform (ich kniff Reni in die Seite und sagte: „Wie im Kino – sieht gefährlich und etwas martialisch aus“) vorbei, entdeckte uns und fragte auch andere ältere und behinderte Personen, ob sie denn einen extra Schalter öffnen sollten, damit wir nicht zu lange stehen bräuchten. Sehr nett und zuvorkommend. Wir waren ganz baff über diesen freundlichen Service. Ob das immer so ist, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch und die Kanadier haben ein unglaubliches Selbstverständnis älteren und behinderten Personen gegenüber.

In Kanada muss man einfach mobil sein. Kanada ist kein Urlaubsort, an dem man immer auf dem selben Fleck stehen bleibt. Am einfachsten funktioniert das mit dem Auto oder einem Wohnmobil. Die Fahrzeuge haben allesamt ein Automatikgetriebe. Inzwischen gibt es aber auch verschiedene Wohnmobil- und Autovermieter, die behindertengerecht ausgestattete und/oder umgerüstete Fahrzeuge anbieten. Teilweise auch mit Handschaltung. Wichtig ist hier jedoch eine sehr frühe Buchung, denn diese speziellen Fahrzeuge sind in der Regel schnell vergriffen. Achtung: Der kanadische Standard ist nicht immer derselbe wie in Deutschland. Das bedeutet, dass man einfach ganz genau hinschauen und konkret nachfragen muss, ob dieser Standard für einen ausreichend ist. Es ist wohl zeitaufwendiger zu organisieren – aber nicht kompliziert. Es muss nur besser geplant und vorbereitet werden. Und dann nix wie los – denn Auto fahren in Kanada ist einfach entspannend.

Noch ein Wort zu dem Selbstverständnis der Kanadier gegenüber älteren und behinderten Personen. Ich habe es noch nie erlebt, dass mir jemand nachgegafft hätte, weil mein Gang im Vergleich mit anderen sehr ungelenk ist. Im Gegenteil. Ich wurde schon des öfteren gefragt, woher die Behinderung kam und wo ich denn Hilfe bräuchte. Zu keiner Zeit habe ich erlebt, dass ältere und behinderte Personen in irgendeiner Form vom öffentlichen Leben oder Veranstaltungen und Aktivitäten ausgeschlossen sind. Sie sind einfach mitintegriert und vor allem akzeptiert. Vor jedem öffentlichen Gebäude und Dienstleistungsbetrieb (Tankstelle, Supermarkt, Restaurants, Bed & Breakfast Unterkünfte usw.) gibt es sowohl Treppen als auch Rollstuhlrampen. Meist auch mit Handlauf, damit Gehbehinderte sich daran festhalten können. Noch ein kleines Beispiel: Einmal bin ich in Whistler mit der Gondel auf den Whistler Mountain gefahren. Als ich oben ankam, sah ich einige ältere „Herrschaften“, die mit einem Gehwagen und in Pantoffeln durch den festgetretenen Schnee stiefelten. Ich bin noch heute über meine typisch deutsche Denkweise beschämt, als mir zunächst der Gedanke kam, dass diese Leute doch zuhause wohl besser aufgehoben wären. Doch als ich in ihre glücklichen und strahlenden Gesichter sah, freute ich mich für sie. Ich war richtig gerührt, als ich die Vorfreude sah, wie sie in einem „sit sled ski“ (eine genaue deutsche Übersetzung weiß ich nicht, aber es ist ein Sitzschlitten auf Skier) von einem Guide begleitet den Berg runtergleiten. Dieser Service kann übrigens auch von Rollifahrern in Anspruch genommen werden, die ansonsten kein Ski laufen.

Seit diesem Erlebnis unternehme ich selbst auch wieder Dinge, die mir vorher unmöglich schienen. So zum Beispiel ATV fahren. Ich habe mich in Whistler danach erkundigt. Am Telefon gab ich an, dass ich gehbehindert sei und gerne eine ATV Tour mitmachen würde. Man fragte mich kurz wie sich die Behinderung ausgestaltet und wo meine Handicaps liegen. Ich schilderte meine körperlichen Gegebenheiten und erhielt dann zur Antwort, dass alles kein Problem sei, wenn ich nur mit dem Daumen den Gashebel und die Bremse betätigen könne. Derselbe Outfitter bietet übrigens auch „Zip-Trekking-Touren“ an. Da hängt man dann in einer Hängevorrichtung an einem Stahlseil und gleitet über eine Schlucht. Ein Gefühl, als ob man wieder Kind ist und sich an die Seilbahn auf dem Spielplatz hängt. Nur mit viel mehr Nervenkitzel. Über eine tiefe Schlucht und Baumwipfel hinweg muss es bei schönem Wetter oder auch im Winter einfach genial sein. Behinderte, die nicht selbst kurze Wegstrecken oder kleine Stufen bewältigen können, sollten eine Begleitperson zur Unterstützung mitbringen.

Empfehlen möchte ich an dieser Stelle auch die Möglichkeit, eine Wanderung mit einem Biologen zu buchen, der einem die Landschaft und die Natur erklärt. Ich lernte vor einiger Zeit den Biologen Patrick Walshe in Nanoose Bay (an der Küste von Vancouver Island) kennen. Er führt sowohl Gruppen als auch Einzelpersonen. Er ging auf meine körperlichen Gegebenheiten ein und zeigte mir kleine Rundwanderwege, die ich gut bewältigen und dabei Tiere beobachten konnte. Diese Rundwanderwege sind teilweise auch „wheelchairaccessible“ also mit dem Rollstuhl befahrbar. Ein Kennzeichen für solche Rundwanderwege können aus Holz gebaute Stege sein. Sie führen je nach Region auch durch den Regenwald oder auch am Strand entlang.

Whistler ist im Winter ein echtes Skifahrermekka. Wer es gerne eng und turbulent liebt, ist hier genau richtig. Aber auch im Sommer ist Whistler von Touristen übervölkert. Hier finden Sie Vereinigung „Whistler Adaptive Sports Program“. Diese Vereinigung hat das Ziel verschiedene Sportarten für alle Menschen mit den verschiedensten Möglichkeiten und Handicaps anzubieten. Das Angebot ist vielfältig und beginnt mit „Monoskifahren“, geht über Kanu fahren und endet mit „Hand-Biking“. Nichts ist unmöglich. Auch für Behinderte. Selbst Bungee Jumping mit einem Rollstuhl wird für Menschen mit eingeschränkter Mobilität angeboten. Übrigens: Bei der Vereinigung „Whistler Adaptive Sports Program“ gibt es 2 Dolmetscher für die amerikanische Zeichensprache, die sich unter anderem auch in 12 verschiedenen Zeichensprachen ausdrücken können. Bitte fühlen Sie sich auch Gehörloser oder Sehbehinderter ermutigt, solche Unternehmungen zu wagen.

Allerdings ist es auch hier sinnvoll entsprechende Vorgespräche zu führen, um die jeweilige Behinderung ausführlich zu beschreiben. Um dem Outfitter die Chance zu geben, die passende Ausrüstung und gegebenenfalls Begleitservice zu organisieren und vorzubereiten. Je nach Art der Behinderung kann es sein, dass nicht alle Bedürfnisse eines Behinderten abgedeckt werden können. Dann wird aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man das gegebenenfalls selbst dafür Sorge zu tragen hat. Aber ausgeschlossen von einer Aktivität wird man nicht. Im Gegenteil, man schaut eher, dass man es möglich macht. Diese Vorplanung kann schon im Rahmen der Urlaubsvorbereitung von Ihrem Reiseberater/Ihrem Kanadaspezialisten gemacht werden. Oder von Ihnen selbst direkt vor Ort, wenn Sie sich mehr als einen Tag in Whistler aufhalten.

In der Nähe von Campbell River in British Columbia liegt übrigens die Knight Inlet Lodge. Diese Lodge kann nur mit dem Wasserflugzeug erreicht werden. Dort werden tolle Bärenbeobachtungstouren angeboten. Je nach Saison werden die Bären vom Wasser oder vom Hochsitz aus beobachtet. Die Knight Inlet Lodge ist ein auf einer Floßkonstruktion schwimmender Gebäudekomplex Vieles ist ebenerdig. Ein tolles Erlebnis für jedermann, unabhängig, ob jemand taubstumm oder Prothesenträger ist. Bitte scheuen Sie sich (insbesondere Rollifahrer) aber nicht, schon bei der Vorplanung der Reisebesprechung Ihre Handicaps genau zu schildern, damit eingeschätzt und nachgefragt werden kann, ob Ihre Bedürfnisse dort abgedeckt werden können. Eine andere sehr schöne Unterkunft befindet sich in Nova Scotia. Die Mersey River Chalets. Die gesamte Anlage ist behindertengerecht konzipiert und die Chalets sind rollstuhlgerecht eingerichtet.

Wußten Sie, dass Vancouver nicht nur eine der lebenswertesten Städte der Welt, sondern auch eine der barrierefreisten Städte der Welt ist ? Im Rahmen der Winter Olympiade und der Paralympics 2010 wurde alle Bahnhöfe des Skytrains barrierefrei gestaltet. Bis auf den in der Granville Street. Auch das öffentliche Bussystem soll vollständig auf Niederflurbusse umgestellt werden und am Flughafen in Vancouver tut sich so einiges. Hier gibt es schon jetzt Lagepläne der Terminals in Blindenschrift und zusätzliche Telefonmöglichkeiten für Gehörlose.

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1 Kommentar

Peter Iden 12. Oktober 2010 - 16:53

Ein ausgezeichneter Beitrag, Christian.
Wir Kanadier nehmen unsere Einrichtungen fuer Koerperbehinderte als selbstverstaendlich hin, ohne weiter darueber nachzudenken. Als viel Gereister weiss ich, dass sie einmalig in der Welt sind. Was du berichtest, bringt allerdings diese Einrichtungen wieder in den Fokus, in dem wir sie selbst kaum noch beachten.
Auf der lustigen Seite hat der Durchfahrschalter unserer Bank, an dem Leute aus dem Auto heraus ihre Bankgeschaefte erledigen koennen, Tasten mit Braille. Mit anderen Worten, selbst autofahrende Blinde koennen dort ihre Bankgeschaefte verrichten. Das ist Kanada pur!
Beste Gruesse, und sollten dich eure Reisen einmal in die Torontoer Gegend fuehren, so schreibe mir und wir koennen ein Treffen organisieren.
Peter Iden.

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