In 1962 hoerte ich zuerst durch Bekannte an der Universitaet von Toronto von einem Buch, das ein Doktor William Sherwood Fox ueber eine relativ unbekannte Gegend von Ontario, die Bruce Peninsula, 10 Jahre vorher geschrieben hatte. Der Titel: “The Bruce beckons” (die Bruce laedt ein). Das Buch ist noch heute aktuell und kaufbar.
Eine faszinierende Abhandlung ueber einen Teil von Ontario, in dem Orchideen, Klapperschlangen und fleischfressende Pflanzen, dichte Waelder, fremdartige Farne, ueberwachsene Suempfe (bogs), hohe Limestone-Cliffs (Plattenkalk-Klippen), dichte Waelder und majestaetische Weisstannen, die schoensten Straende Ontarios, und tiefe klare Seen, die Tierwelt, die Pflanzenwelt und die Landschaft dominieren. Spaeter fanden wir heraus, dass die glasklaren Gewaesser entlang der Ostkueste ein Massengrab fuer gestrandete Schiffe war, und ein fantastischer Platz – wenn nicht der beste in Kanada – fuer Taucher ist.
In 1963 verbrachte meine Frau 6 Wochen in Deutschland mit unserer ersten Tochter. Es war eine Zeit, in der ich die Bruce Peninsula von oben bis unten, vom Sueden bis Norden, vom Osten bis Westen total erforschte, mit Saunders’ Buch als mein Fuehrer. Natuerlich hatte ich waehrend der Woche einen Job in der fotografischen Firma Bell and Howell, aber die Wochenenden waren meine. Mein VW-Kaefer war immer gepackt, und am Freitag-Abend ging es in die “Bruce”.
Mein erstes Ziel war die Cape Croker Reservation der Ojibwa-Indianer. Der Begriff “First Nations” war noch nicht erfunden, die heutige “Chippewa of Nawash First Nation” hiess damals “Cape Croker Indian Reserve” und die heutigen Orte Nayausheeng, Makataewaukawauk und Omeedjilawh (Omejhla, es gibt keine einheitliche Ojibwa-Schrift) hatten noch ihre urspruenglich englischen Namen. Und Geeshkaupikauhnssing Cliff hiess noch Montresor Point.
Die Erlebnisse dieser Wochen und Monate sowie der folgenden Jahre bleiben in meiner Erinnerung als etwas, das man heutzutage wohl nicht mehr erleben kann, obwohl sich die “Bruce” am wenigsten entwickelt hat, verglichen mit anderen Teilen Ontario’s. Da waren die Kletter-Touren auf die Klippen mit dem alten Indianer “Johnson” und mehreren jungen Ojibwas. Sie standen am Rand der 300 Fuss hohen Klippen und warfen Steine in den Abgrund, waehrend ich auf dem Bauch an den Rand der Klippen kroch und herab sah. “You white people are funny”, sagten sie mir. Indianer haben keine Furcht vor Hoehen. Die Wolkenkratzer der grossen Staedte in den USA und Kanada wurden zuerst von ihnen errichtet.
Ein anderes Mal waren wir auf einer Wanderung oben auf einer der Klippen. Ihre Eigenschaft, ihren Weg im kanadischen “bush” zu finden, war erstaunlich. Aber nur bis ich beobachtete, dass sie alle hundert Meter oder so eine Zweig an einem Busch umknickten, damit sie spaeter ihren Weg zurueck finden konnten. Auf diesem “Ausflug” endeten wir an einem kleinen See im Nirgendwo. Und ploetzlich erschien ein alter Topf, schwarz gebrannt vom Rauch draussen, schwarz gebrannt drinnen, in dem sie Tee ueber einem Feuer kochten. Keine Tassen oder Becher, jeder trank aus demselben Topf.
Dazu etwas Hintergrund. Tuberkulose und Alkoholismus sind zwei Krankheiten, die den Indianern sehr viel Probleme machten und immer noch unter ihnen weit verbreitet sind. Viele der aelteren Indianer haben einige Zeit in Sanatorien fuer Tuberkulose-Behandlung verbracht. Als ansteckende Krankheit gab mir das natuerlich einige Bedenken, wenn ich von ihnen zu einer Tasse Tee eingeladen wurde. Man kann diese Freundschafts-Geste nicht abweisen, aber man kann auch den Tee von innerhalb der Tasse aufsaugen anstatt vom Rand der Tasse zu trinken. Ein kleiner Trick, den man aus Erfahrung lernt.
Alkoholismus ist noch heute fuer die Indianer das groesste Problem. Wie mir ein Ojibwa-Chief einmal sagte: “Ihr Europaer habt Jahrtausende lange Erfahrung mit Alkohol, fuer uns sind es nur wenige Jahrhunderte. Was fuer euch normal ist, ist alles andere fuer uns. Unsere Toleranz fuer Alkohol ist immer noch weit niedriger als eure.”
Ich erinnere eine Nacht auf dem MacGregor Harbour Point, wo ich alleine in meinem VW-Kaefer uebernachtete. Nach dem Sonnenuntergang erschienen etwa ein halbes Dutzend “Young Bucks” auf der kleinen Halbinsel, bauten ein grosses Lagerfeuer und begannen zu trinken. Ich war etwas besorgt, aber nach mehreren, fuer mich schlaflosen Stunden verliessen sie den Platz ziemlich betrunken. Aber sie ruehrten mein Auto oder mich nicht an, denn sie wussten, dass ich mit ihrem Chief Akiwenzie bekannt war und die Erlaubnis hatte, dort zu kampieren.
Ein anderes Mal fuhren wir auf das grosse Dock bei Cape Croker, um einen Ausblick ueber die herrliche Colpoy Bay zu haben, eine der schoensten Kuesten in Ontario. Zwei Dutzend oder mehr junge Indianer sassen auf dem Dock, andere tauchten und schwammen in der Bucht. Einer der Ojibwa kam zu unserem Auto, klopfte auf das Dach und sagte: “Hey, dies ist unser Dock, was wollt ihr hier?” Ich schaltete in den Rueckwaertsgang und wir verliessen das Dock.
Die verwandten Saugeen Indianer und die Ojibway hatten ein Jagdbebiet weiter im Norden der Bruce, welches sie sich teilten. Es existiert noch heute, mitten im Bruce Peninsula National Park. Man sagte mir, ich koennte dort in ihrer Jagdhuette schlafen. Ich fand sie: das Dach hatte ein grosses Loch, und Stachelschweine hatten ein genau so grosses Loch in die Tuer gekaut. Die Huette stank nach alten nassen Matratzen und wer weiss was noch sonst. Nein danke!
Ich fuhr den Waldweg bis zur Kueste und baute mir mit Hilfe meiner Axt aus Zedernstaemmen und Zweigen einen “lean-to” unter einem Felsenvorsprung. Zwar hatte ich ein kleines Zelt mit offenem Boden, aber aus Respekt vor den Klapperschlangen wollte ich nicht unbedingt im “bush” schlafen. Fuer das Unterbett nahm ich ebenfalls Zedernzweige. Als Pfadfinder in Deutschland durften wir so etwas absolut nicht machen, aber dieses ist ja Kanada. Es war eine gemuetliche Unterkunft, und das Geraeusch der Wellen am Steinstrand gab mir einen guten Schlaf.
Am naechsten Wochenende ging ich Klapperschlangen jagen und fangen. Dazu braucht man hohe Stiefel, einen langen Stab mit einem Haken am Ende, einen dicken Jute-Sack und, im Falle eines Schlangenbisses, eine Ampulle mit Gegengift. Ein Motorrad-Camper an der Dorcas Bay hatte mir gesagt, dass die “Rattlesnake Farm” im Sueden der Bruce fuer jede Klapperschlange 5 Dollars zahlt. Die Schlangen wurden dort regelmaessig “gemolken”, um ihnen das Gift abzunehmen, welches fuer die Herstellung von Gegengift gebraucht wurde. Die Bisse der Massasauga Rattlesnake (Sistrurus catenatus) sind nicht toedlich, aber aeusserst unangenehm, weil sie ein Nervengift enthalten. Nur eine Person ist in Ontario in mehr als 100 Jahren an einem Biss gestorben, ein Kind, dessen Immunsystem bereits vorher geschwaecht war.
Die “Rattlers” sind zahlreich in der Bruce. Sie ratteln ihren Schwanz, sobald man ihnen zu nahe kommt. Sie werden mit dem Hakenstock hochgehoben und in den Sack gesteckt. Bald hatte ich ein halbes Dutzend oder so in dem Sack. Aber ich hatte ein Problem. Der Sack mit den Schlangen war im Gepaeckraum vorne im VW, ich musste in demselben Wagen schlafen. Keine unbedingt Schlaf-erzeugende Situation, denn die Viecher waren auch in der warmen Nacht aktiv. Also befoerderte ich sie wieder in ihren urspruenglichen Lebensraum und konnte nun ruhig schlafen. Ende meiner Karriere als Schlangenfaenger!
Im September 1963 machte ich unsere noch sehr kleine Familie mit der Cape Croker Reservation bekannt. Wir fanden einen herrlichen kleinen weissen Strand und fragten die Eigentuemer, die Omejhla-Familie, ob wir dort unser kleines Zelt aufschlagen koennten. “No problem”. Eigentlich hatten wir eine Woche dort geplant. Unsere zweijaehrige Tochter Tamara spielte mit den Omejhla-Kindern, wir badeten im herrlich warmen Wasser der Bucht und erforschten den Rest der Reservation bis zum Leuchtturm an der Georgian Bay.
Dann fing es an zu regnen und hoerte nicht wieder auf. Am zweiten Abend besuchten wir das “Drive-in Theater” in Wiarton nahebei, aber am dritten Tag fuhren wir nachhause. Es war der Anfang einer viele Jahre dauernden Bekanntschaft mit dieser Gegend und ihren Bewohnern. Wir kamen noch sehr oft nach Cape Croker zurueck, lernten einige der Einwohner kennen und fuehlten uns wohl und sicher dort.
Eigentlich wollten wir uns von den Ojibwa ein Stueck Land mieten und an der Hope Bay eine Cottage bauen. Man konnte das, wenn man mit der “Indian Affairs” Regierungsstelle einen 99 Jahre dauernden Vertrag abschloss. Ich besuchte eine Frau, die Rechtsanwaeltin und “Queen’s Counsel” war und schon mehrere Jahre ihre Cottage dort hatte. Ein QC ist ein Spitzen-Rechtsanwalt, dessen Ernennung von der kanadischen Regierung vorgeschlagen wird und der dann von der Koenigin mit diesem Titel belohnt wird. Er oder sie durfte dann den QC Seiden-Talar tragen. Der Titel QC besteht seit 1597, wird aber seit 1985 nicht mehr vergeben.
Waehrend wir auf ihrer Veranda sassen, bemerkte ich eine Rauchsaeule etwas weiter in der Bucht. “Ach,” meinte sie, “das kommt ab und zu vor. Die Young Bucks brechen in eine Cottage ein, hauen die Moebel kaputt und machen mit ihnen ein Lagerfeuer im Wohnzimmer, waehrend sie sich betrinken. Mehrere Cottages sind hier schon verbrannt. Meine Cottage ruehren sie natuerlich nicht an, denn sie wissen, dass ich ein Queen’s Counsel bin.”
Ende unseres Wunsches, dort eine Cottage zu haben! Aber wir kehrten noch oft nach Cape Croker zurueck, zelteten dort mit Freunden und Verwandten, zuerst allein am herrlichen Sandstrand der Sydney Bay, im Schatten der 250 Fuss hohen Kalkstein-Felsen. In 1967 eroeffneten die Indianer diesen Platz als “Cape Croker Indian Park”, und wir mussten seitdem einen “Camping Fee” bezahlen. Der schoene Sandstrand wurde Anfang der 1980’er Jahre von einem Sturm ausgewaschen und besteht heute nicht mehr.
Unser letzter Besuch war vom 4. bis 6. September 2010, 47 Jahre nach unserem ersten Besuch im September 1963. Wir zeigten unserem Schwiegersohn einen der schoensten Teile von Ontario, den er, wie viele Kanadier, noch nie gesehen hatte.
http://www.explorethebruce.com
http://www.thebrucepeninsula.com/native.html
http://travelingluck.com/North%20America/Canada/Ontario/_6086405_Nayausheeng.html#local_map
Peter Iden
Brampton, Ontario, Canada