„Die Töchter des Königs“ – historische Wahrheiten über die Bevölkerungsentwicklung in Québec

von Marc Lautenbacher
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Ankunft der Töchter des Königs (Eleanor Fortescue Brickdale, um 1927)

Les filles du Roy (zu Deutsch: „Die Töchter des Königs“) waren rund 830 junge, französische Frauen, die zwischen 1663 und 1673 nach Neufrankreich, der heutigen kanadischen Provinz Québec, auswanderten. Das vom damaligen König Ludwig XIV. von Frankreich – dem berühmten „Sonnenkönig“ – finanzierte Einwanderungsprogramm sollte in der bereits über 50 Jahre bestehenden Kolonie das Bevölkerungswachstum ankurbeln. Einerseits sollten männliche Immigranten dazu ermuntert werden, sich ganz in Neufrankreich niederzulassen. Andererseits sollte die Gründung von Familien und somit die Geburtenrate gefördert werden. Frauen und Mädchen wanderten auch vor und nach dieser Zeitspanne nach Kolonialfrankreich aus, gelten aber nicht als „Les filles du Roy“. Der Begriff trifft historisch gesehen nur auf jenen Personenkreis zu, der in den besagen 10 Jahren von der damaligen Regierung aktiv angeworben wurde und dessen Überfahrt sowie dessen Mitgift vom König voll finanziert wurde. All diese Frauen stammten überwiegend aus bescheidenen Verhältnissen und kamen zu etwa vier Fünfteln aus französischen Städten.

Neufrankreich war ab der Stadtgründung Québec’s im Jahre 1608 eine reine Männerwelt – eine von Handwerkern, Seeleuten, Soldaten, Trappern und Priestern bevölkerte Provinz, die Frauen wenig zu bieten hatte. Bis zum Jahre 1617 gab es sogar keine Frauen in Kebek – wie es damals geschrieben wurde – die aus dem Mutterland Frankreich stammten! Mit der Zeit wurde in der Kolonie jedoch auch Landwirtschaft und Gartenbau betrieben, was den Frauen mehr Möglichkeiten eröffnete. Um 1650 bestand aber weiterhin ein großes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Immigrantinnen mussten damals ihre bis zu drei Monaten dauernde Überfahrt selbst bezahlen und nur wenige alleinstehende Frauen wollten ihre gewohnte Umgebung verlassen, um sich im rauen Neufrankreich, dem heutigen Ostkanada, niederzulassen.

Zwischen 1634 und 1663, also in einem Zeitraum von fast 30 Jahren, hatten lediglich wenig mehr als 200 ledige Frauen die Kolonie in Neufrankreich als ihre neue Heimat gewählt! Der Einzug von 1.200 Soldaten samt 80 Offizieren des Regiments Carignan-Salières, die der König zum Schutze der Kolonie abkommandiert hatte, verursachte dazu noch einen weiteren Männerüberschuss.

Ab 1663 wendete König Ludwig XIV. persönlich das Blatt. Er beauftragte seinen wichtigsten Minister Jean-Baptiste Colbert, die Verwaltung nicht nur in den Kolonien auf den Antillen und in Afrika zu reorganisieren, sondern auch die im heutigen Kanada. Die private Gesellschaft „La Compagnie de la Nouvelle-France“ auch genannt „Compagnie des Cent-Associés“, die zur wirtschaftlichen Entwicklung extra gegründet worden war, jedoch den Erfordernissen nicht entsprach, wurde aufgelöst. Im Folgenden wurde eine offizielle Vertretung des Königs in Neufrankreich etabliert, die im April 1663 das erste Mal tagte. Dieser königliche Rat bestand aus einem Gouverneur, einem *Intendanten, dem Bischof und einem hohen Militär: der „Conseil souverain de la Nouvelle-France“! Dieser hohe Rat entschied und ermöglichte damit den ersten rund 100 jungen Frauen, auf Staatskosten nach Neufrankreich zu reisen.

Der damalige Kolonialbeamte des Königs Intendant Jean Talon, der am 12. September 1665 in Québec eintraf, führte dann bis Ende des darauffolgenden Jahres die erste Volkszählung in der Kolonie durch – mit dem Ergebnis: auf nur 1.368 Frauen kamen 2.394 Männer! Hinzu kam, daß knapp ein Drittel davon Kinder unter 14 Jahren waren. Die Stadt Québec hatte zu diesem Zeitpunkt lediglich 547 Einwohner. Um das Bevölkerungswachstum nun stärker anzukurbeln, schlug er dem König vor, die Schiffsreise und Aussteuer von mindestens 500 Frauen zu finanzieren. König Ludwig XIV. stimmte zu und finanzierte schließlich über 830 Überfahrten.

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Die Mehrzahl dieser Frauen, die von königlichen Beamten nach recht strengen Kriterien ausgewählt wurden, kamen aus eher bescheidenen Verhältnissen. Viele waren Waisen mit sehr wenig persönlichem Besitz und zum Großteil Analphabeten. Manche stammten aus verarmten adligen Familien ab, andere aus Familien mit zu vielen Töchtern. Sie waren überwiegend zwischen 16 und 25 Jahren alt, etwa ein Zehntel zwischen 12 und 15 Jahren, etwa 25 Prozent 26 Jahre oder älter. Die Behörden vermittelten üblicherweise Frauen aus höheren sozialen Schichten direkt an Offiziere oder an die in Neufrankreich lebende Aristokratie. Sie hofften, daß die Adligen die jungen Frauen heiraten und sie sich deshalb zum Verbleib in der Kolonie entscheiden würden, anstatt nach Hause zurückzukehren.

Eine „Fille du Roy“ erhielt die Unterstützung des Königs in mehrfacher Hinsicht. Er bezahlte 100 **Livres für die bis zu 3 Monaten dauernde Überfahrt. Ebenso stattete er die Frau mit einer Truhe aus, die die Aussteuer enthielt: einen Wintermantel, eine Jacke, eine Bluse, vier Unterröcke (Anm. Unterhöschen gab es damals noch nicht, Frauen trugen erst ab dem frühen 19. Jahrhundert Unterwäsche), zwei Paar Strümpfe, ein Paar Schuhe, einen Kamm, eine Bürste, eine Schere, zwei Messer, zehn Nähnadeln, vier Rollen Garn und Haarnadeln sowie 50 Livres als Bargeld. Ursprünglich war eine Mitgift von 400 Livres vorgesehen. Da das königliche Schatzamt die erforderliche Summe jedoch nicht vorschießen wollte, erhielten viele der Frauen stattdessen Sachspenden. Nach erfolgter Hochzeit erhielt jedes neuvermählte Paar – sozusagen als Prämie -eine Grundausstattung an Vieh: eine Kuh, sechs Schafe und zwölf Hühner. Ein fast unschätzbarer Wert für die damaligen Verhältnisse.

Die „Töchter des Königs“ gingen zuerst in Québec, dann in Trois-Rivières und zuletzt in Montréal an Land und wurden dort nach ihrer Ankunft bei den Schwestern des Ursulinen-Ordens aufgenommen, die damals das Gesundheitswesen innehatten. Danach ließen sie sich unterschiedlich lange Zeit, um einen geeigneten Ehemann zu finden. Einige heirateten bereits nach wenigen Monaten, bei anderen dauerte dies bis zu zwei oder drei Jahre. Die meisten Paare verlobten sich in Anwesenheit des Pfarrers und vor Zeugen offiziell in der Kirche. Einige verlobte Paare gingen danach zu einem Notar, um einen Ehevertrag abzuschließen. Außerdem stand es den Frauen frei, das Eheversprechen zu annullieren, falls der auserkorene Ehepartner nicht ihren Vorstellungen entsprach – sehr modern für diese Zeit und wir wissen heute, daß es jede Zehnte war! Zudem kann man aus alten Aufzeichnungen sehr genau entnehmen, wie viele „Töchter des Königs“ in den Jahren zwischen 1663 und 1673 nach Neufrankreich kamen:

1663   -> 36
1664   -> 1
1665   -> 80 bis 100
1666   -> keine
1667   -> 109
1668   -> 80
1669   -> 149
1670   -> etwa 165
1671   -> 150
1672   ->  keine
1673   -> 60

In der Summe also zwischen 832 und 852 Mädchen und Frauen!

Bereits Ende 1671 war Intendant Jean Talon der Meinung, daß es im folgenden Jahr nicht mehr notwendig sei, jungen Frauen die Schiffsreise und die Aussteuer zu bezahlen, worauf der König die Finanzierung einstellen ließ. Die staatlich unterstützte Einwanderung erfolgte dann nur noch bis zum Jahre 1673, als König Ludwig XIV. auf Wunsch des neu ernannten Gouverneurs Louis de Buade de Frontenac nochmals 60 Frauen schickte. Danach wurde die Einwanderung nach Neufrankreich wieder zu einer Privatangelegenheit, die jeder selbst finanzieren musste.

Wie nicht anders zu erwarten hatte sich in der genannten Periode die Bevölkerung der noch jungen Kolonie knapp verdoppelt. Ab dem Jahr 1666 von rund 3.700 Einwohnern auf rund 6.100 Einwohner bis zum Jahr 1672, jedoch immer noch im Ungleichgewicht von doppelt so vielen Männern als Frauen. Dieser Zustand änderte sich allmählich erst ab 1680. Im Übrigen war dies die einzige ernsthafte Anstrengung der französischen Regierung zur Bevölkerungsentwicklung in den rund 160 Jahren ihres Wirkens!

Zeitsprung in unsere Tage: Neuesten Forschungen nach hat beinahe jeder Frankokanadier mindestens eine Tochter des Königs unter seinen Vorfahren und es ist sicher, daß ohne sie Quebec in seiner heutigen Form nicht vorhanden wäre. Gemäß der letzten Volkszählung von 2016 leben in der gesamten Provinz von Québec heute 4.016.760 männliche und 4.147.605 weibliche Kanadier. Ein erfreuliches Ergebnis der biologischen Bevölkerungsentwicklung nach 408 Jahren, denn schliesslich sind es mehr Frauen als Männer geworden!

Marc Lautenbacher (Québec/Canada)

*Intendant: Verwaltungsbeamter, der im Auftrag des Königs weitreichende Befugnisse in Bezug auf den Ablauf der Rechtsprechung, Steuern und Finanzen sowie der Polizeigewalt innehatte. Im übrigen war er für die ökonomische Entwicklung einer Kolonie verantwortlich, der sich zudem für sozial Schwache kümmern musste.

 **Livre (dt. Pfund): vom 9. bis zum 18. Jahrhundert eine französische Einheit der Silberwährung. Der Kurs von einer gemünzten Silber-Livre entspricht zwischen 5 bis 15 Euro der heutigen Kaufkraft.

Beispiele: 100 Livres = Kaufpreis eines Pferdes für einen Handlungsreisenden, 72 Livres = Fahrt mit einer Postkutsche von Bordeaux nach Paris, 5 bis 20 Livres = Dirnenentlohnung einer Prostituierten am Palais Royal in Paris oder 3 Livres = Verdienst eines Vorarbeiters pro Tag.

 Quellen: Gouvernement du Québec – Culture et Communication, Wikipedia Commons, www.racontemoilhistoire.com, Société historique de Québec

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