Mit 536 Quadratkilometern steht der „Parc National de la Mauricie“ flächenmäßig an siebter Stelle unter den 44 Nationalparks der kanadischen Regierung und an neunter Stelle von weiteren 39 Naturreservaten von Québec – derjenigen Provinz Kanadas, in deren Fläche Deutschland 4,3 mal hineinpassen würde. Man kann dort u. a. den seltenen Eistaucher, Elche, Blauhäher und sogar Braunbären beobachten; es gibt unzählige Feuchtgebiete mit einmaliger Flora fleischfressender Pflanzen und wer will, kann die 63 Kilometer lange Autostraße, die den weitläufigen Nationalpark in voller Länge durchzieht, auch mit dem Fahrrad bewältigen. Ich habe für unsere Leser dort einige der schönsten Orte erkundet – insbesondere für Familien mit Kindern: zum Wandern, zum Campen, zum Baden, zum Kanufahren oder einfach nur zum Entspannen – auf neudeutsch “chillen!”
„Heute ist Freitag und ein schöner Tag!“ wie meine kanadische Lebensgefährtin Marie voller Übermut verkündet. Denn wir wollen mehrere Tage in einem Nationalpark verbringen, den mehrere Gäste aus unserer Pension, die wir zehn Jahre lang betrieben hatten, als „sehr sehenswert“ empfohlen hatten. Was sie darunter genau verstanden, hatten wir nie so ganz realisiert und deshalb wollten wir uns selbst ein Bild davon machen.
Der eine oder andere Leser wird sich fragen, warum denn gleich „mehrere Tage“ den Nationalpark Mauricie erkunden? Dazu ein paar interessante Fakten: Das Nationalparkgebiet umfasst eine Fläche von 536 Quadratkilometern und ist damit genauso groß wie der gesamte Bodensee (!). Das ausgedehnte Réserve faunique Mastigouche – ein Wildschutzgebiet – bildet im Westen die Grenze. Im Norden ist es der Rivière Matawin, im Osten der gewaltige Rivière Saint-Maurice und im Süden sind es die Niederungen im Tal des Sankt-Lorenz-Stroms. Eine 63 Kilometer lange Asphaltstraße, die die beiden Haupteingänge des Parks verbindet, erschließt alle wichtigen Service- und Besucherzentren sowie die zahllosen Wanderwege sowie die ziemlich gut angelegten Park- und Campingplätze.
Seine besondere Berühmtheit erlangte der Park aufgrund seiner mehr als 150 kleineren und größeren, teilweise völlig unberührter Seen in herrlicher Natur. Insbesondere gibt es Hochmoore, die in Europa so nicht mehr zu finden sind, zuweilen spektakuläre Wasserfälle, aber auch unzählige Tümpel und Teiche mit dazugehörenden Feuchtgebieten, was eine extrem vielfältige Fauna und Flora hervorbringt. Was wir bei unserer Abfahrt noch nicht ahnen können: im Verlauf von nur drei Tagen werden wir Bussarde und farbenprächtige Blauhäher, Großlibellen und elegante Graureiher, Streifenhörnchen und Schwarzspechte, Teichfrösche und Tannenhühner sowie den scheuen Eistaucher beobachten können – gekrönt von den stattlichen Bauleistungen mehrerer Biberfamilien. Ob wir später Großwild sehen, ist aber noch ungewiss.
Kanuabenteuer à la Winnetou
Es ist Ende August und ein strahlender Sommertag mit warmen Temperaturen. Das Provinzstädtchen Shawinigan ist unser heutiges Ziel, wo wir in einer netten Herberge unser Basislager aufschlagen wollen, das sich romantisch „La maison sous les arbres“ nennt, also „Haus unter Bäumen“. Denn wir hatten festgestellt, dass im Parkgebiet selbst fast alle Mietzelte und Chalets wider Erwarten voll sind. Es sind schließlich immer noch Schulferien in Québec, was dasselbe bedeutet wie überall auf der Welt: Hochsaison, viele Leute und viele Familien sind unterwegs!
Also beziehen wir unser Zimmer im 4-Sterne-B&B und Jacques, der Besitzer, ermuntert uns zum Kanuausflug zu den Wasserfällen „Les chutes Weber“. Einmalig, sagt er, sollten wir unbedingt machen! Bis zum Parkeingang bei „Saint-Mathieu-du-Parc“ sind es ja bloß 30 Kilometer und wir fahren gleich los. Dort befragen wir erst einmal den freundlichen Parkmitarbeiter, wie wir am besten zu den Fällen kommen. „Sie müssten erst zum Kanuverleih „Wapizagonke“. Von dort benötigen mindestens 6 Stunden für den Hin- und Rückweg, davon gut 8 Kilometer mit dem Kanu, 6 Kilometer zu Fuß inklusive 3 Kilometer auf Tragewegen, wo Sie ihr Kanu von einem See zum anderen hinübertragen müssen. Wollen Sie das heute noch schaffen?“ Wir schauen auf die Uhr, Mist … es ist ja bereits Mittagszeit geworden!
Wir werden also diesen Plan verschieben und heute den Nachmittag nahe des Servicezentrums „Shewenegan“, das sich gleich hinter dem Parkeingang befindet, verbringen und die Wasserfälle „Les Cascades“ anschauen, wo man auch ein wenig planschen kann. Super Idee, denn inzwischen ist es 30 Grad warm geworden. Gesagt, getan und so befinden wir uns nur in wenigen Minuten in der Einsamkeit des Parks und genießen die Ruhe auf dem Netz an Wanderwegen, teilweise über Holztreppen den Berg hinauf, die wir erkunden wollen. Vorbei an stattlichen Baumriesen, an naturbelassenen Wasserläufen, mehreren Biberdämmen und an Hochmooren mit ihrer typischen Vegetation.
Ich entdecke die gefährdete, rote Schlauchpflanze (Sarracenia purpurata), sehr exotisch! Die gibt es sonst nur in den Tropen. Es sind fleischfressende Pflanzen, deren Blätter sich in einen Hohlkörper umgebildet haben, worin sich das Regenwasser sammelt. Somit fängt die Pflanze Insekten, wovon sie sich ernährt, um die fehlenden Mineralien des Moorbodens zu kompensieren. Schlauchpflanzen kommen ausschließlich im Osten Kanadas und Nordamerikas vor.
Ein Naturpark zum Vergnügen
Schon von weitem sind nun Geräusche zu hören, die von einer Ansammlung menschlicher Wesen stammen müssen, die offenbar viel Spaß haben! Da wir unsere Wandertour so gewählt haben, dass wir am Oberlauf der Kaskaden ankommen, treffen wir auf viele kleine und große Badenixen, die auf den Felsen-Terrassen dieser Kaskaden ihr allerhöchstes Vergnügen haben: aufgeregtes Kindergeplapper, freudiges Treiben. Ja, ein idealer Platz für Familien mit Kindern. Im Hochsommer und wegen der geringen Niederschläge führen die Fälle nur wenig Wasser und so kann man sich in dem nur ein paar Zentimeter tiefen Wasserlauf herrlich erfrischen, um sich dann auf den heißen Felsen zu sonnen. Es gibt aber auch kleinere Gumpen, wo man bis zur Brust hineintauchen kann. Ein genussvoller Zeitvertreib bei den heute sehr heißen Temperaturen.
Nach so viel Entspannung ist Kaffeepause angesagt und wir gehen über die in recht ungewöhnlicher Bauweise angelegte Holzbrücke zum Servicezentrum zurück. Das Schildchen mit einer Kaffeetasse drauf hat uns angelockt. Wer aber dort eine üppige Kuchentheke mit Sahnemaschine oder gar Ausschank mit frischem Bohnenkaffee erwartet, liegt hier falsch. Denn wir befinden uns Kilometerweit von der Zivilisation entfernt in der Wildnis! Kaffee gibts aus dem Automaten im Pappbecher, dazu ein in Zellophan verpacktes Haferflocken-Cookie. Aber wir kennen das schon aus anderen Naturparks, es stärkt uns ausreichend und wir genießen wieder die Ruhe auf dem weitläufigen Gelände mit überall bereitgestellten Holztischen und Bänken, die zum Rasten einladen. Dort bemerken wir auch eine Info-Vitrine, die mit einem reichhaltigen Programm an Aktivitäten speziell für Kinder und Jugendliche so richtig Lust macht, mitzumachen, als plötzlich ein Schwarzspecht mit seinem roten Federschopf an uns vorbeifliegt.
Ein langer Spaziergang entlang des „Lac Wapizagonke“, der uns die Beobachtung eines Graureihers bei der Jagd beschert, lässt uns zum Parkplatz zurückkehren. Auf dem Weg dorthin hören wir den seltenen, wunderhübsch gezeichneten Eistaucher rufen, den wir dann von weitem im See abtauchen sehen. Aufregend! Er ist immerhin der Nationalvogel Kanadas. Am Wegesrand entdecken wir außerdem die Weiße Schildblume (Chelone glabra). Sie wurde früher von den Abenaki-Indianern in ihrer Medizin verwendet; heute ist sie in der Phytomedizin (Wissenschaft von Krankheiten der Pflanzen) und in der Homöopathie gebräuchlich.
Das Abendessen lassen wir heute in Shawinigan stattfinden. Marie hat uns bereits das nette Restaurant „La Pointe à Bernard“ ausgesucht, das uns mit lokaler, feiner Küche verwöhnt. Jedoch als Krönung des Abends dürfen wir bei einer Gratis-Gala, auf die wir rein zufällig in der belebten Altstadt treffen, den Gesangskünsten des hiesigen Alt-Superstars Joël Denis beiwohnen. Seine Popularität in Kanada ist etwa mit der von Rudi Carell oder Roy Black der 80er Jahre in Deutschland vergleichbar!
Was wir jedoch noch nicht wissen können: Es warten die kommenden Tage noch weitere Ereignisse auf uns, auf die unsere Leser schon jetzt gespannt sein dürfen.